Kirchenaustritte, Mitgliederschwund im (Sport-)Verein, helfende Hände im Ehrenamt. Reporterin Susanne Hausdorf hat recherchiert, ob Nürnberg wirklich so gespalten ist und was uns als Gesellschaft noch zusammenhält.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt hängt davon ab, wie gut die Menschen in einer Gesellschaft zusammenarbeiten und füreinander einstehen. Es geht also um Solidarität und um das Gefühl der Zugehörigkeit sowie des Miteinanders aller Mitglieder einer Gesellschaft – unabhängig von Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Status, ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder politischer Überzeugung.
Spannungen durch wachsende Unterschiede

Verschiedenes kann diesen Zusammenhalt beeinflussen, zum Beispiel Unterschiede im sozialen Status, wirtschaftliche Probleme, Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gruppen oder kulturelle Unterschiede.
Ein Aspekt, der sich maßgeblich auf den Zusammenhalt auswirkt, ist die Verteilung des Geldes innerhalb einer Gesellschaft. Wenngleich er keine direkte Ableitung ermöglicht, so ist der sogenannte Gini-Index doch eine Möglichkeit, um die monetäre Verteilung in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder eines Landes zu beurteilen. Das Ergebnis dieser Formel variiert zwischen 0 und 1, wobei 0 für vollständige Gleichheit steht ( = jeder hat das gleiche Einkommen oder Vermögen) und 1 für vollständige Ungleichheit ( = eine Person besitzt alles, während alle anderen nichts haben).
Folgen finanzieller Ungleichheiten
Mögliche Auswirkungen aufgrund von finanziellen Ungleichheiten:
- Soziale Spannungen
- Vertrauensverlust in soziale Institutionen und die Regierung
- weniger Partizipation und Beteiligung an demokratischen Prozessen
- Verstärkung ungleicher Bildungs-/ Aufstiegschancen, aufgrund erschwertem Zugang zu Bildung
- schlechtere Gesundheit und psychische Verfassung
Kriterien für guten Zusammenhalt
Soziale Bindungen: Familie, Freundschaften und ein soziales Netzwerk sind grundlegende Faktoren, die Menschen miteinander verbinden und die erste Grundlage für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt schaffen.
Solidarität und Hilfe: Die Bereitschaft, einander zu helfen und füreinander einzustehen, spielt eine weitere entscheidende Rolle. Wer sich zusammenschließt, um Herausforderungen wie Naturkatastrophen oder wirtschaftlich schwierige Zeiten zu bewältigen, stärkt auch das Vertrauen zueinander.
Bildung und Wissen: Wenn Menschen hierzu gleichberechtigt Zugang haben, können sie ihre Fähigkeiten entwickeln, ihr volles Potenzial ausschöpfen und damit aktiv zu einer gelingenden Gesellschaft beizutragen. Außerdem fördert Bildung das Verständnis, die Toleranz und eine informierte Bürgerschaft, was wiederum den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken kann.
Kulturelle Vielfalt und Inklusion: Wenn sich Menschen unterschiedlichster Hintergründe respektiert und anerkannt fühlen, entsteht eine Atmosphäre des Miteinanders.
Institutionen und Rechtsstaatlichkeit: Menschen fühlen sich sicher, wenn funktionierende Institutionen, ein gerechtes Rechtssystem und eine effektive Regierung vorhanden sind. Dies hält das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Gesellschaft aufrecht. Haben Menschen das Gefühl, dass ihre Rechte geschützt sind und gerechte Verfahren existieren, steigt der Zusammenhalt.
Werte und Normen: In Deutschland bildet der Glaube an gemeinsame Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichberechtigung, Respekt und Toleranz das Fundament unserer Gesellschaft. Das alles dient als Leitlinie für das Verhalten der Menschen und schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Zusammenhalts.
Zusammenhalt ist nicht per sé positiv

„Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ sei zu einem Modebegriff geworden, wenn wir über gesellschaftliche Krisen diskutieren, meint David Strecker. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FZG) in Frankfurt am Main. Die Bedeutung und Funktion blieben dabei jedoch häufig unscharf.
Der Wissenschaftler David Strecker gibt außerdem zu bedenken, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht per Definition positiv sein muss. Zum Beispiel, „wenn sich extrem rechte Vereine gesellschaftlich einbringen“ und die Jugendarbeit übernehmen, indem sie Zeltlager organisieren oder Jugendclubs leiten, wie der Berliner Tagesspiegel berichtete.
Kirchenaustritte und Ehrenamt
Immer mehr Menschen kehren der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland den Rücken (ausführliche Zahlen auf Statista.com). Allein für 2022 verzeichnete beispielsweise die Erzdiözese Bamberg, die auch für die Nürnberger Katholiken zuständig ist, 15.705 Austritte gegenüber lediglich 45 Neu-Eintritten. Für ganz Bayern waren es 153.586 Austritte gegenüber 291 Neu-Eintritten, wie die Deutsche Bischofskonferenz in diesem Infoblatt (PDF-Dokument) informiert.
Auch das Ehrenamt tut sich schwer. Zwar zeigt die größte deutsche Erhebung, der sogenannte Freiwilligensurveys des Bundessozialministeriums (hier die Ergebnisse als PDF), dass die Zahlen deutschlandweit von 1999 bis 2019 gestiegen sind, doch sie decken sich nicht mit dem, was das Bayerische Sozialministerium für Bayern vermeldet: 41% der bayerischen Bevölkerung über 14 Jahren seien in 2022 ehrenamtlich aktiv gewesen – gegenüber 47% in 2014. Nur an der Pandemie alleine kann dieser Rückgang nicht liegen. Im Gegenteil: Laut einer Befragung des Forums Zivilgesellschaftsdaten (FZD) ist die Zahl der deutschlandweit Engagierten 2020 sogar angestiegen – um bis 2022 wieder auf das Vorkrisen-Niveau abzusinken. Die meisten Ehrenamtlichen finden sich in Sportvereinen, Kirche und Hilfsorganisationen.
Spaltung – eine Frage des Standpunkts
Was bedeutet das nun für uns als Gesellschaft? Nur, weil die Kirchenaustritte steigen, bedeutet dies nicht zwangsläufig einen Verfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Denn wer für die ältere Nachbarin einkaufen geht oder Kindern im eigenen Umfeld bei den Hausaufgaben hilft, wird nicht zwangsläufig von den offiziellen Erhebungen erfasst.
Und so spiegelt der Eindruck, ob eine Gesellschaft auseinanderbricht, auch laut Dr. David Strecker oftmals eher individuelle Perspektiven, Ängste und Unsicherheiten wider. Dennoch ist es wichtig, diese Sorgen ernst zu nehmen.
„Was als gesellschaftliche Spaltung bezeichnet wird und ob diese schlimm ist, hängt vom eigenen politischen Standort ab.“
Aus dem Aufsatz-Dossier Nr. 36 „Gespaltene Gesellschaft? Hintergründe, Mythen und Fakten“ von Stefan Hradil und weitere für das Roman-Herzog-Institut, einem von bayerischen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden finanzierten Think Tank.
Ursachen dieses Zerrbildes
Die zunehmende soziale Ungleichheit kann den Eindruck verstärken, dass die Gesellschaft gespalten ist: Wenn bestimmte Gruppen benachteiligt werden und der Zugang zu Ressourcen und Chancen ungleich verteilt ist, entsteht das Gefühl von Ungerechtigkeit.
Ebenso können politische Debatten zu Spaltung führen, wenn sie zunehmend polarisierender geführt werden. Wenn Menschen sich in extreme Positionen begeben und sowohl Dialog als auch Kompromissbereitschaft abnehmen, entsteht der Eindruck, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet.
Medien dienen oft als Verstärker
Viele Medien wirken dann als Verstärker: Die Art und Weise, wie über gesellschaftliche Probleme berichtet wird, kann obigen Eindruck verstärken. Negative Nachrichten und Sensationsberichterstattung können die Wahrnehmung verzerren und das Gefühl verstärken, dass die Welt immer schlechter wird.
Schon gewusst:
Wir, Relevanzreporter, nehmen diese Verantwortung ernst und haben uns deshalb bei unserer Entwicklung seit 2020 für die bis dahin in Deutschland noch recht neue Form des sogenannten konstruktiven Lokaljournalismus entschieden. Wir bleiben nicht beim Problem stehen, sondern fangen dort erst an, fragen wie man sie lösen kann und wer nun konkret was tun muss – oder aber auch warum ein Lösungsansatz wo und wie bei uns Grenzen hat.
Bei alledem setzen wir außerdem auf Partizipation: Wir wollen die Menschen dieser Region mit uns und untereinander ins Gespräch bringen, verschiedene Sichtweisen sichtbar machen und so für eine Stärkung der Toleranz und damit der Demokratie eintreten. Genau für diese Zwecke hat uns das Finanzamt auch als gemeinnütziges Unternehmen anerkannt.
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Ein paar Mut machende Beispiele
1. Fluthilfe im Ahrtal
Füreinander und miteinander: Besonders, wenn’s hart auf hart kommt, hält man zusammen. Am eindrücklichsten wurde dies in jüngster Zeit wohl bei der Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021. Unzählige Helfende aus allen Teilen Deutschlands reisten spontan nach Ahrweiler, um die Verwüstungen durch Wasser und Schlamm zu beseitigen. Und die Aktion „Flutwein“ örtlicher Gastronomen sammelte 47.492 Spender:innen sage und schreibe 4,4 Millionen Euro ein, mit denen ein Teil des Wiederaufbaus der Region finanziert werden konnte.
2. Dugnad in Norwegen
Dugnad (gesprochen: dügnaad) ist ein wichtiger Teil der norwegischen Kultur und spielt eine große Rolle, wenn es um gesellschaftlichen Zusammenhalt geht: Menschen kommen hierbei freiwillig zusammen, um gemeinsam eine Aufgabe oder ein Projekt zu erledigen. Sie reichen von kleinen Arbeiten wie dem Reinigen öffentlicher Plätze oder dem Streichen von Zäunen bis hin zu größeren Projekten wie dem Bau oder der Renovierung von Gemeinschaftseinrichtungen. Ankündigungen gibt’s in der Zeitung oder per Mundpropaganda und das Dugnad-Komitee, plant und organisiert den Ablauf. Traditionell bringt zum Dugnad auch jede:r etwas für alle zum gemeinsamen Essen und Trinken mit, das stärkt die Gemeinschaft.
3. „Kehrd wärd“ in Franken
In Nürnberg gibt es auch Aktionen, bei denen sich Menschen außerhalb von Vereinen engagieren. Zum Beispiel beim jährlichen „Kehrd wärd“, um gemeinsam Müll und anderen Unrat aus Stadtteilen oder Waldstücken zu sammeln.
4. Eigen-Initiative für die Nachbarn in Zirndorf
Der Zirndorfer Hotelier Christoph Müller wohnt seit seiner Geburt in dem Fürther Stadtteil. Warum nicht auch außerhalb von Online-Netzwerken treffen. Über die Plattform www.nebenan.de hatte er bereits vor der Corona-Pandemie versucht, Menschen zu verbinden, die am gleichen Ort leben.
Zum Tag der Nachbarn, der jährlich am letzten Freitag im Mai stattfindet, hatte Christoph Müller auch schon mal eine lange Tafel in seinem Garagenhof aufgestellt, ein paar Hundert Einladungen in die Briefkästen in seinem Viertel geworfen und abgewartet, wer zu dem Austausch kommt. „Ein bisschen schade ist, dass sich bisher kein Querschnitt durch die Gesellschaft zusammenfindet. Ich habe dieses Jahr dreimal so viele Einladungen an Mieter wie an Eigenheim-Besitzer verteilt, aber alle, die gekommen sind, waren die mit der eigenen Immobilie.“ Positiv sei ihm aber aufgefallen, dass sich die Menschen schon miteinander austauschten und sich hier und da neue Partner für den Sport oder dergleichen gefunden haben.

5. Tausende Helfer:innen beim Kirchentag und beim Challenge Roth
Mehr als 4000 Freiwillige waren beim Deutschen Evangelischen Kirchentag im Juni 2023 in Nürnberg im Einsatz. Beim Triathlon-Großereignis „Challenge“ in Roth beteiligten sich laut dem Bayerischen Rundfunk sogar rund 7.500 freiwillige Helfer:innen – auch, weil diese von den Challenge-Organisatoren unter anderem mit Privilegien am Veranstaltungstag oder eigenem Helferfest zum Abschluss enorme, aufrichtige Wertschätzung erfahren.
6. Ehrenamtskarte in ganz Bayern

Übrigens: Der Freistaat Bayern würdigt Bürgerschaftliches Engagement seit 2009. Die sogenannte Bayerische Ehrenamtskarte können Vereine, Organisationen und Co. für jede:n beantragen, der mindestens ein Jahr lang mehr als 80 Stunden ehrenamtliches Engagement belegen kann. Mit der Auszeichnung erhalten die Engagierten Vergünstigungen in ausgewählte bayerische Einrichtungen wie zum Beispiel in bayerische Schlösser oder Museen. Außerdem soll sie besondere Fähigkeiten für berufliche Bewerbungen dokumentieren.
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