Rechtsruck: Nürnberg erhält die Demokratie

Veröffentlicht am 13. Oktober 2023
Zuletzt aktualisiert am: 5. Juni 2024

Seit den Wahlen beherrscht der Rechtsruck die Debatten. Ob er existiert und was er für Nürnberg bedeutet, beantwortet Dir unsere Redakteurin Andrea Beck.

„Geht ein Rechtsruck durch Nürnberg?“ ist der Titel unserer Community-Umfrage vom 8. Oktober 2023. Sie hat uns gezeigt: Das Thema beschäftigt die Leser:Innen der Relevanzreporter und viele Fragen sind noch offen. Zum Beispiel die Definition des Begriffs, seine Messbarkeit und die Auswirkungen auf die Bewohner:innen Nürnbergs.

Auf Basis Eurer Fragen, Anregungen und Erfahrungen habe ich, Relevanzreporterin Andrea Beck, mich auf die Suche nach Antworten gemacht. Und zu nahezu allen Fragen Antworten gefunden.

Außerdem gibt der Artikel einen Überblick über die erfreulich hohe Zahl von Verbänden, Institutionen und Vereinen in der Metropolregion Nürnberg, deren Ziel es ist, die Demokratie zu stärken. Sie beraten und helfen Interessierten sowie Betroffenen von Menschenfeindlichkeit.

Die Nürnberger “Allianz gegen Rechtsextremismus” lädt die Menschen zum Mitmachen ein. Diese hängten ihre Zettel mit Statements für die Demokratie am 29. September 2023 an die “Brandmauer gegen rechts”. Foto: Andrea Beck

Die Umfrageteilnehmer:innen interessierte auch eine Meinungsabfrage bei den Parteien des Nürnberger Stadtrats und Stimmen aus der Nürnberger Bevölkerung. Diesen Themen werden wir uns einem weiteren Artikel im Oktober 2023 gesondert widmen.

Rechts, Mitte, Links – Die Definition

„Wie definiert Ihr rechts?“, ist die Frage der Teilnehmerin Heike aus Nürnberg. Und wo liegt die Grenze zwischen rechts und konservativ?

Eine aktuelle Definition der Begriffe (Stand: Oktober 2023) bietet die „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, die im September 2023 erschienen ist. Die Stiftung gibt seit 2006 alle zwei Jahre eine neue Ausgabe ihrer „FES-Mitte-Studie“ heraus, die die Entwicklung und Verbreitung rechtsextremer und antidemokratischer Einstellungen in Deutschland erforscht.

Die „Mitte“ definiert die Studie als den Teil der Bevölkerung, der mit dem politischen System der Demokratie, der Verfassung und den geltenden Normen und Werten – wie der Achtung der Menschenwürde – in Einklang steht und dem demokratischen System vertraut.

Während „Konservative“ überzeugt vom bestehenden System sind und Veränderungen ablehnen, fordern die Menschen am extremen rechten und linken Rand das Ende der bestehenden Demokratie.

Rechts und links können in Gewalt ausarten

„Rechts“ ist laut der Studie eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die Menschen zum Beispiel aufgrund ihrer Herkunft, Rasse und Kultur unterscheidet und einer der Gruppen – dem „wahren Volk“ – eine Überlegenheit zuspricht. Kernelemente des Rechtsextremismus sind eine Befürwortung der Diktatur, die Verharmlosung des Nationalsozialismus und die Billigung von Gewalt.

„Links“ ist eine Ideologie der Gleichwertigkeit aller Menschen, die die Abschaffung jeglicher Ungleichheit fordert. Kernthemen der Ideologie sind die Ablehnung des Kapitalismus und die Forderung einer Umverteilung von unten nach oben. Der Linksextremismus billigt ebenfalls Gewalt um das bestehende System zu stürzen.

Die größere Gefahr kommt von Rechts

Beide Extreme sind eine Gefahr für die Demokratie, doch laut Bundesverfassungsschutz geht die größere Gefahr für Deutschland 2023 von rechts aus.

Die Mitte-Studie 2023 macht im Vergleich zu den Vorjahren deutlich, dass rechtsextreme Ansichten in Deutschland weiter in die Mitte vorgedrungen sind – und dass das nicht mehr unter vorgehaltener Hand passiert. Rund 16 Prozent der Befragten verorten sich selbst rechts der Mitte. 2021 taten das neun Prozent.

16,2 Prozent der Befragten haben fremdenfeindliche Ansichten (2021:4,5 Prozent) und 30,3 Prozent äußern sich in Teilen fremdenfeindlich (2021:21,2 Prozent).

Die Mitte-Studie hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Herausgeberin Beate Küpper sprach im ARD-Interview von einem deutlichen Rechtsruck der deutschen Bevölkerung.

Nürnbergs rechtsextreme Szene

Mit Bannern, Plakaten und Aktionen versuchte die Nürnberger Allianz möglichst viele Menschen von der Wahl rechter Parteien abzubringen. Im Falle der AfD-Wähler:innen ist ihr das nicht gelungen. Foto: Andrea Beck

Die Mitte-Studie betrachtet das gesamtdeutsche Bild. Die Analyse auf einzelne Städte wie Nürnberg umzumünzen ist schwierig.

Doch unsere Umfrageteilnehmer:innen wollten wissen, ob der Rechtsruck auch durch Nürnberg und die umliegende Region geht. Deswegen zunächst der Blick auf den Sicherheitsbericht 2022 des Polizeipräsidiums Mittelfranken:

Dieser lässt keine große Gefahr erkennen. 2022 verzeichnete die Polizei in Nürnberg 292 rechte Delikte, elf davon waren Gewaltdelikte. Damit sinkt die Zahl der rechten Delikte seit 2019. Die rechtsextremistische Szene bestehe aus rund 50 Mitgliedern der Parteien NPD und III. Weg, die 2022 nicht öffentlich auftraten.

Die AfD ist eine Alternative für Rechtsextremisten

Allerdings sagt das Präsidium Mittelfranken, dass die AfD zur “echten Alternative” ehemaliger NPD- und III. Weg-Mitglieder geworden sei und somit in Nürnberg und Umgebung rechtsextremistischen Zulauf hat.

Außerdem bestehe eine Gefahr durch die Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts in Chatgruppen. Die Verbrechen der Rechtsextremistin Susanne G. aus Diepersdorf im Nürnberger Land hätten gezeigt, „dass innerhalb der rechtsextremistischen Szene auch virtuelle Radikalisierungsprozesse von Einzelpersonen […] stattfinden.“

Hier geht es zu den Berichten der Laufer Pegnitz-Zeitung über die verurteilte Staatsterroristin Susanne G.

Die Landtagswahlen belegen Nürnbergs Rechtsruck

Während die offen rechtsextreme Szene in Mittelfranken überschaubar und von der Polizei gut dokumentiert ist, sagt das noch nichts über die stärkere Verbreitung rechten Gedankenguts und eine mögliche Gefährdung der Demokratie durch einen Rechtsruck in der Region Nürnberg aus.

„Sind die rechten Bürger:innen in Nürnberg wirklich mehr geworden, oder scheint das nur so?“, will die 36-jährige Leserin Madeleine aus Nürnberg wissen.

Für unsere Analyse traf es sich günstig, dass die bayerischen Landtags- und Bezirkswahlen am 8. Oktober 2023 in den Zeitraum der Recherche fielen. Denn die Wahlgewinnerin „Alternative für Deutschland“ (AfD) wird von Politik und Wissenschaft als rechte und in Teilen rechtsextremistische Partei bezeichnet.

Dennoch war die AfD in Nürnberg, Fürth und Schwabach – wie in ganz Bayern – die Gewinnerin dieser Wahlen. Mit ihren 12,9 Prozent verzeichnet die Partei in Nürnberg einen Gewinn von 4,5 Prozent im Vergleich zu den Landtagswahlen 2018. Am beliebtesten ist sie bei Männern im Alter zwischen 35 und 60 Jahren.

Die Stadt Nürnberg bietet eine ausführliche Analyse der Landtagswahlen 2023.

Was bedeutet eine starke AfD für Nürnberg?

Die Sitze des nächsten bayerischen Landtags sind verteilt, doch was heißt das für die Bewohner:innen Nürnbergs und der Region. „Auf was müssen wir uns gefasst machen, wenn die AfD wirklich mehr ,Macht‘ gewinnt?“ fragt Karo Schmidt.

Eine klare Antwort darauf zu finden, ist schwierig. Trotz des Wählergewinns der AfD lehnen die restlichen Parteien im bayerischen Parlament – bis jetzt – eine Zusammenarbeit mit der AfD-Fraktion ab.

Die bayerische Regierung lehnt – bis jetzt – eine Zusammenarbeit mit der AfD ab. Die Besucher:innen von “Brandmauer gegen rechts” forderten mit ihren Statements, dass das so bleibt. Foto: Andrea Beck

Diese bildet mit ihren 14,6 Prozent (+4,4) nun eine starke Fraktion der Opposition, und bekommt mehr Fördergelder des Freistaats. Dennoch hat sie damit keinen zwingenden Einfluss auf die Handlungen der Regierung aus CSU und Freien Wählern. Die Reden der AfD-Abgeordneten haben allerdings das Potenzial, die Stimmung im Freistaat weiter aufzuheizen.

Nürnberg stellt sich gegen jegliche Form von Extremismus

In Nürnberg ist die AfD aktuell mit vier Mitgliedern im Stadtrat vertreten. Die nächsten Kommunalwahlen finden 2026 statt. Der Einfluss der vier AfD-Vertreter auf die Geschehnisse der Stadt Nürnberg hält sich aktuell in Grenzen.

Die Stadt selbst ist allen Parteien gegenüber neutral, denn so bestimmt es das Gesetz. Doch „die Stadt und der Stadtrat stellen sich in allen Aktivitäten ganz klar gegen jegliche Formen von Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Extremismus“, sagt Andreas Franke, Pressesprecher der Stadt.

„Ein gemeinsamer Antrag der AfD mit anderen Fraktionen und Gruppierungen oder die Unterstützung eines von der AfD gestellten Antrages durch andere Ratsmitglieder ist nicht bekannt“, so Franke.

Die Verbreitung rechten Gedankenguts

Neben den politischen Entscheidungen hat jedoch bereits die Verbreitung rechten Gedankenguts und der Ruck des öffentlich „Sagbaren“ nach rechts einen Einfluss auf den Alltag einer Stadt und das Zusammenleben ihrer Bewohner:innen.

Zum Beispiel in Form einer wachsenden Diskriminierung der Bewohner:innen mit Migrationshintergrund, die im schlimmsten Fall zu Gewalttaten führt.

Offene Anfeindungen und Hasspropaganda machen nicht nur den Betroffenen Angst, sondern auch den Menschen, die diese Propaganda ablehnen, sagt der Vorsitzende der Nürnberger Allianz gegen Rechtsextremismus, Stephan Doll.

Als Moderator von “Brandmauer gegen rechts” rief der Vorsitzende der Allianz gegen Rechtsextremismus, Stephan Doll (am Mikrofon), die Anwesenden dazu auf, sich gegen die Verbreitung rechter Propaganda einzusetzen. Foto: Andrea Beck

Um nicht selbst Ziel der Rechten zu werden, halten viele Bürger:innen Abstand und überließen so leider fremdenfeindlichen und antisemitischen Argumenten das Feld, so Doll. Diese spielen dann in der öffentlichen Debatte, etwa bei einer Nürnberger Bürgerversammlung, eine größere Rolle.

Warum wählen so viele die AfD?

Diese Frage brennt vielen Nürnberg:innen auf den Nägeln, die die AfD nicht gewählt haben und sich nun Sorgen um einen rechten Einfluss auf Politik und Alltag der Stadt machen. „Was macht die AfD für die Menschen, die sie wählen, so akzeptabel?“ fragt Karo Schmidt.

Ich habe mit mehreren AfD-Mitgliedern an ihren Wahl-Infoständen, etwa am Nürnberger Plärrer, gesprochen. Jeder von ihnen – es waren ausschließlich Männer im Alter von 40 bis 67 Jahren – macht die Bundesregierung für sein Partei-Engagement verantwortlich.

Die Politik der “Altparteien” werde für den Zusammenbruch Deutschlands sorgen. Durch Migration und die Schwächung der Wirtschaft.

Krisen schaffen Unsicherheit

Die wahren Gründe für den Rechtsruck liegen laut der Mitte-Studie tiefer. Auch für den Politikprofessor Heiner Bielefeldt, Leiter des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Friederich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), ist die Politik der Regierung nicht der eigentliche Grund für die wachsende Wählerschaft der AfD.

Der Politikprofessor Dr. Dr. Heiner Bielefeld leitet den Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der FAU.
Foto: Harald Sippel

„In der deutschen Bevölkerung herrscht ein hohes Maß an Erschöpfung. Angesichts der immer neuen Krisen sind sich viele Menschen unsicher, wie ihre Zukunft aussieht.“

Nach drei Jahren Corona-Pandemie habe sich der Ukraine-Krieg – und mit ihm steigende Preise und eine Inflation, die sich niemand mehr hatte vorstellen können – angeschlossen. Mit dem Angriff auf Israel sei eine neue Krise dazu gekommen.

Rechte Parteien bieten einfache Lösungen

„Diese Krisenmüdigkeit gilt nicht nur für Deutschland, sondern für viele europäische Länder“, so Bielefeldt. Die Komplexität der Migrationspolitik, des Klimawandels und der damit verbundenen Maßnahmen machten vielen Menschen Angst.

Die AfD, die österreichische FPÖ und andere rechte Bewegungen bieten laut dem Politikprofessor einfache Lösungen und geben angeblichen Feinden die Schuld an der zerstörten Harmonie.

„Viele Bürger:innen wollen schlicht in Ruhe gelassen werden. Ihr Vertrauen in die Demokratie scheint geschwächt. Und manchmal bleibt es nicht dabei, sondern es entwickelt sich ein Hass auf diese ,Feinde’ wie Migranten und eine politische ,Elite'”, so Bielefeldt.

Kein Vergleich zur Weimarer Republik

Der Rechtsruck sei erschreckend und müsse ernst genommen werden. Doch Bielefeldt malt kein Untergangsszenario: „Prognosen, dass alles noch schlimmer werde, sind gefährlich und können sich zu selbsterfüllenden Prophezeiungen entwickeln.“

Auch Vergleiche mit der Weimarer Republik und der Machtergreifung der NSDAP 1933 träfen nicht zu. „Die Gruppe der Menschen, die an der Demokratie zweifeln, ist weit von der Mehrheit im Land entfernt. Das war in der Weimarer Republik anders“, sagt Bielefeldt.

Nürnbergs Projekte gegen rechts können sich sehen lassen

Nürnberg müsse nun alles dafür tun, die Bürger:innen, die das Vertrauen in die Demokratie verloren haben, zurückzugewinnen, sagt Bielefeldt. Aber wie?

Das ist eine Frage, die die Teilnehmer:innen unserer Umfrage umtreibt. „Wie sollen die Rechtsdenkenden erreicht werden?“ fragt Jörg aus Nürnberg und Julian will wissen: „Gibt es Institutionen, die [die Verbreitung rechten Gedankenguts] erforschen und bekämpfen?“

Die Relevanzreporter haben gute Nachrichten für ihre Leser:innen: Die Liste der Institutionen und Vereine, die sich in Nürnberg dem Thema Rechtsruck widmen und die Demokratie stärken wollen, ist ausgesprochen lang.

Nürnbergs Karte der Demokratie

Wenn Du unsere grafische Übersicht über Vereine und Institutionen zur Stärkung der Demokratie in Nürnberg sehen möchtest, klicke bitte auf den Button.

Die Karte zeigt eine Auswahl von 20 Einrichtungen. Die vollständige Liste der Vereine und Projekte besteht aus 80 bis 100 Standorten, die – erfreulicherweise – den grafischen Rahmen sprengen würden.

Auch die Stadt ist aktiv

Neben Vereinen und Verbänden investiert auch die Stadt Nürnberg viel Geld und Zeit in die Stärkung der Demokratie. Nürnberg spielte eine wichtige Rolle für die Propaganda der NS-Herrschaft.

Von den Reichsparteitagen zur Stadt des Friedens und der Menschenrechte

Von 1936 bis 1945 trug sie den Titel „Stadt der Reichsparteitage“, die jährlich bis zu einer halben Million Besucher:innen nach Nürnberg zogen, um den Führer Adolf Hitler zu bejubeln. Die „Nürnberger Rassegesetze“ schufen ab 1935 die rechtliche Grundlage für die Verfolgung der Juden.

Doch auch die “Nürnberger Prozesse” gegen führende Repräsentanten des dritten Reichs nach dem zweiten Weltkrieg sind in der Geschichte der Stadt fest verankert.

Die Stadt hat sich angesichts ihrer Vergangenheit schon vor Jahrzehnten entschieden, die Geschichte zu bewahren und die nächsten Generationen über die NS-Zeit zu informieren. Sie nennt sich Stadt des Friedens und der Menschenrechte.

1993 erschuf der israelische Künstler Dani Karavan die Straße der Menschenrechte. Das Nürnberger Menschenrechtsbüro verleiht seit 1995 jedes Jahr den Internationalen Menschenrechtspreis und lädt zur Friedenstafel.

Nürnberg ist sich der Verantwortung bewusst

„Nürnberg ist sich seiner besonderen Verantwortung bewusst, wachsam zu sein gegen alle Formen der Menschenfeindlichkeit. Hier suchen wir den engen Schulterschluss mit allen demokratischen Parteien, den Kirchen, Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Religionen, Organisationen und Vereinen sowie der engagierten Zivilgesellschaft.”

Marcus König, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg

Die Projekte der Stadt und ihre Investition in die Stärkung der Demokratie sind beachtlich. Sie ist Partner des Bundesprogramms „Demokratie leben!“, das Projekte zur politischen Bildung und zur Bekämpfung von Diskriminierung finanziell fördert.

Nürnberg ist außerdem Gründungsmitglied der „Allianz gegen Rechtsextremismus“ (siehe unten) und hat Begegnungs- und Bildungsangebote, etwa durch die Arbeit der Stabsstelle Menschenrechtsbüro und Gleichstellung, geschaffen. 50 Schulen im Stadtbereich tragen das Label „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.

“Der Integrationsrat ist für die Menschen da”

Der aktuelle erweiterte Vorstand des Integrationsrats Nürnberg (Stand Oktober 2023) wurde 2022 gewählt. Betül Özen (4. v. l.) ist die Vorsitzende. Foto: Integrationsrat Nürnberg

Zu den Projekten der Stadt für Demokratie und Menschenrechte zählt seit 2010 der Rat für Integration und Zuwanderung, das Nachfolgegremium des Ausländerbeirats (gegründet 1973).

Das Gremium besteht aus gewählten Vertreter:innen verschiedenster Herkunftsländer und ist der politische Interessensvertreter der Nürnberger:innen mit Migrationshintergrund – also für 50,01 Prozent der Nürnberger:innen (Stand 2022). Seine Empfehlungen leitet der Rat an den Nürnberger Stadtrat weiter.

Die Vorstandsvorsitzende der 31 Ratsmitglieder ist seit 2022 Betül Özen. „Dass die AfD einen solch starken Zulauf in Nürnberg hat, war ein Schock für mich. Ich bin aber überzeugt, dass wir mit Aufklärungsarbeit viele ihrer Wähler:innen wieder umstimmen können,“ sagt die 27-Jährige.

Der Rat ist Ansprechpartner für alle

Die wachsende Fremdenfeindlichkeit mache vielen Nürnberger:innen Angst. Sie können sich direkt an den Integrationsrat wenden. „Wir sind für die Menschen da und besuchen sie vor Ort.“ Beim Rat gehen laut Özen fast täglich Anrufe ein – von Nürnberger:innen mit und ohne Migrationshintergrund.

„Der Hintergrund dieser Fremdenfeindlichkeit ist sehr oft fehlender Kontakt, der Vorurteile fördert. Wir als Integrationsrat wollen Brücken bauen“, so Özen. Ein Mittel sei zum Beispiel die Schaffung von Begegnungsorten für interkulturellen und interreligiösen Dialog in Stadtteilen mit hohen AfD Wählerquoten. 

Die Allianz gegen Rechtsextremismus ist einzigartig

Der größte Akteur zur Stärkung der Demokratie in Nürnberg ist die Allianz gegen Rechtsextremismus. Sie wurde 2009 gegründet und ist ein bundesweit einzigartiger Verband dessen 446 Mitglieder (Stand Juli 2023) aus der gesamten Metropolregion Nürnberg stammen. Diese reicht bis in den Süden Thüringens.

Sowohl Städte und Kommunen als auch Firmen, Vereine und Kirchengemeinden sind dem Verband begeitreten – im gemeinsamen Einsatz für die Demokratie und gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Auch in unserer Community ist die Allianz bekannt. Umfrageteilnehmer Jörg war Besucher der Allianz-Veranstaltung “Brandmauer gegen rechts” am 29. September 2023 auf dem Nürnberger Ludwigsplatz. Madeleine hat uns den Vorsitzenden der Allianz, Stephan Doll, als Experten zum Thema Rechtsruck empfohlen.

Interview mit Stephan Doll: “Wir brauchen mehr Geld”

Ein guter Tipp von Madeleine. Stephan Doll leitet hauptberuflich den DGB Mittelfranken. Seit sechs Jahren ist er außerdem Vorsitzender der Allianz.

Zur “Brandmauer gegen rechts” kamen mehrere Landtagskandidaten. Stephan Doll (3. v. r.), Vorsitzender der Allianz, übergab das Mikrofon unter anderem dem SPD-Direktkandidaten Arif Taşdelen. Foto: Andrea Beck

Der Rechtsruck bereitet Doll Sorge. Bund, Länder und Kommunen müssten mehr Geld Verbände wie die Allianz stecken, findet Doll: “Wir würden noch viel mehr Veranstaltungen organisieren, aber wir wissen nicht einmal, wie wir uns 2024 finanzieren”, sagt Doll.

Mit einem festen Förderbeitrag von rund 100.000 Euro pro Jahr könnte sich der Verband eine feste Stelle und ein Büro leisten. “Dann wäre zum Beispiel ein Fest der Demokratie in Nürnberg möglich, inklusive Konzert.”

Konzerte ziehen alle Bewohner:innen an

In München hat eine solche Veranstaltung gegen rechts am 4. Oktober 2023 35.000 Besucher angezogen. “Kulturveranstaltung sind ein Angebot, das nicht nur Akademiker und politisch Aktive interessiert”, sagt Doll.

Aktuell finanziert sich der Verband aus Geldern des Bundesprogramms “Demokratie leben!” und Spenden von Kommunen, Firmen und Bürger:innen. “Damit kann die Allianz einige Veranstaltungen, Info-Broschüren und Aktionen wie unseren ‘Demokratiekoffer’ finanzieren, aber es wäre mehr möglich”, so Doll.

Der Verband sieht sich als Helfer und Berater der Bevölkerung. “Eltern, deren Kinder nach rechts driften. Kommunen, die Probleme mit der rechtsextremistischen Szene haben. Menschen, die eine Nazi-Feier in der Nachbarschaft nicht hinnehmen wollen. Sie alle melden sich bei uns und wir informieren sie über ihre Möglichkeiten”, sagt Doll.

Bildung und Beratung im Caritas-Pirckheimer-Haus

Das Caritas-Pirckheimer-Haus (CPH) zählt ebenfalls zu den Einrichtungen, die in Nürnberg Veranstaltungen gegen die Verbreitung von Extremismus – rechts wie links – organisieren, aufklären und Interessierte beraten.

Das Haus ist eine Akademie der katholischen Kirche und ihr Direktor Siegfried Grillmeyer ist Mitbegründer des Kompetenzzentrums für Demokratie und Menschenwürde der katholischen Kirche in Bayern.

Siegfried Grillmeyer ist der Direktor der katholischen Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Foto: Martin Stammler

Die Ökumene hält zusammen

„Unsere Gesellschaft erlebt zurzeit einen Ruck weg von Anstand und Menschlichkeit. Die christlichen Kirchen wollen dem etwas entgegensetzen“, sagt Grillmeyer. Die Nächstenliebe und die Würde aller Menschen seien Grundpfeiler des christlichen Glaubens. „Das passt mit dem fremdenfeindlichen, völkischen Leitbild der AfD nicht zusammen.“

Die Ökumene der evangelischen und katholischen Kirchengemeinden in Nürnberg sei sich in Sachen Extremismus einig: „Unsere Vereine, wie etwa die Jugendverbände, arbeiten eng zusammen und organisieren Veranstaltungen. Eine Vertiefung dieser Zusammenarbeit ist geplant und in diesen Zeiten auch angesagt“, so Grillmeyer.

Das Doku-Zentrum: Ein Ort der Aufklärung

Wie kein anderer Ort in der Region Nürnberg steht das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände für Aufklärung und Erinnerung an die NS-Herrschaft.

„Auf dem Reichsparteitagsgelände haben die Menschen dem NS-Regime freiwillig zugejubelt. Rund 80 Jahre danach ist es an uns, eine Haltung zu entwickeln, die verhindert, dass Menschen je wieder Mitläufer eines solchen Regimes werden“, sagt der Ausstellungskurator des Doku-Zentrums, Alexander Schmidt.

Der US-Amerikaner Robert Bernat (blauer Pullover) hat dem Doku-Zentrum 2022 seine Sammlung von NS-Objekten als Leihgabe übergeben. Das Bild zeigt ihn bei seinem Besuch im Oktober 2023, zusammen mit Ausstellungskurator Alexander Schmidt. Foto: Daniela Harbeck-Barthel

Das Zentrum erreicht nicht nur Akademiker

„Das Gelände mitsamt der Kongresshalle ist ein Zeuge des Größenwahns der Nationalsozialisten.“, sagt Schmidt. Das Doku-Zentrum biete dort ein niederschwelliges Angebot, das nicht nur Mitglieder des Bildungsbürgertums erreiche.

Trotz Rechtsruck bleibt Schmidt – wie der FAU-Professor Bielefeldt – optimistisch. „Die Grenzen haben sich verschoben, das steht fest.“ Das Verhalten Hubert Aiwangers während der sogenannten Flugblatt-Affäre und die Zahnarztvergleiche von Friedrich Merz machten das deutlich. „Dennoch sorgten beide Politiker mit ihren Aussagen für große Empörung – die Debatte ist noch nicht gekippt“, sagt Schmidt.

Was kann jeder Einzelne tun? – Tipps von Betül Özen und Stephan Doll

  1. Nicht weghören – Die Akzeptanz fremdenfeindlicher Argumente und Witze fördert die Verbreitung rechten Gedankenguts. „Schon Hinweise wie ,Das ist nicht witzig‘ haben eine Wirkung“, sagt Betül Özen.
  2. Einschreiten bei einer offenkundigen Anfeindung von Mitbürger:innen
  3. Falls Nürnberger:innen Beratung oder Hilfe brauchen oder Ideen für neue Aktionen haben, können sie sich an die Allianz gegen Rechtsextremismus und den Integrationsrat wenden.
  4. Im Fall von Beleidigungen und Drohungen empfiehlt die Allianz, Anzeige zu erstatten.
  5. Vereine brauchen finanzielle Unterstützung. Egal welche Summe – Spenden sind immer willkommen.
  6. Vereine, Verbände und Kirchengemeinden suchen ehrenamtliche Helfer. Wer sich gegen rechts engagieren will, hat in Nürnberg eine sehr große Auswahl. (siehe Demokratiekarte)

Wir wollen Deine Meinung hören

Was hältst Du von dem Thema Rechtsruck? Welche Fragen sind für dich noch offen? Und welchen Projekten pro Demokratie in Nürnberg sollen die Relevanzreporter noch nachgehen? Deine Meinung ist uns wichtig. Schreib uns gerne Deine Anmerkungen zum Artikel oder Deine eigenen Erfahrungen zum Thema Rechtsruck unten in die Kommentarspalte.

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