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Georg Escher

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Demokratie retten gegen Netanjahu und Konsorten

Von: Georg Escher

Das Muster kommt einem allzu bekannt vor: Was die Welt derzeit in Israel mit Schrecken beobachten kann, hat bereits zahlreiche Vorbilder in anderen Staaten, selbst in der EU. Wo immer autokratische Regierungen den Rechtsstaat angreifen, stets setzen sie an derselben Stelle an: Sie versuchen die Justiz gleichzuschalten und zu entmachten. In der Türkei, in Ungarn, in Polen. Auch in den USA, einst Vorreiter der demokratischen Welt, war das unter Präsident Donald Trump zu bestaunen. Wer die Ausbreitung dieser Seuche verhindern will, muss versuchen, Demokratie wieder robuster zu machen. Es gibt Stellschrauben.

Lassen wir Israel für einen Moment außen vor und fangen mit dem Beispiel USA an. Dort ist besonders anschaulich zu sehen, wie es zumindest teilweise gelingen konnte, eine zuvor überparteiliche Justiz zu einem Erfüllungsgehilfen politischer Interessen zu machen. Jahrzehntelang war der Supreme Court eine von Mehrheiten im US-Kongress unabhängige Instanz im amerikanischen System von Checks and Balances. Natürlich hatten Präsidenten immer wieder Richter berufen, die ihrer politischen Farbe nahestanden. Das galt für Liberale wie John F. Kennedy genauso wie für den stramm konservativen Ronald Reagan. Doch im Amt entschieden die Richter nicht immer so, wie es von ihnen erwartet worden war. Das Interesse des Landes, das Große und Ganze, überwog. Und weil für die Berufung immer eine „Super-Mehrheit“ von 60 der 100 Stimmen im US-Senat notwendig war, wäre eine Berufung eines extremen Kandidaten immer aussichtslos gewesen. Doch genau das hat sich geändert. Und dies erwies sich als Einfallstor für Angriffe auf die Justiz – und es wird seither rund um den Globus als Hebel genutzt.

Stolz konnte US-Präsident Donald Trump am 31. Januar 2017 seinen Kandidaten Neil Gorsuch (neben ihm seine Frau) präsentieren. Er ist der erste von Trump ernannte Richter am Supreme Court. Foto: White House
Stolz konnte US-Präsident Donald Trump am 31. Januar 2017 seinen Kandidaten Neil Gorsuch (neben ihm seine Frau) präsentieren. Er ist der erste von Trump ernannte Richter am Supreme Court. Foto: White House

Sündenfall unter Obama

Der Sündenfall passierte nicht unter einem republikanischen Präsidenten, sondern unter einem demokratischen, unter Barack Obama. Die Republikaner im Senat blockierten nach Obamas Wiederwahl im November 2012 zahlreiche Kandidaten für Bundesgerichte, für die Leitung von Bundesbehörden und auch seinen Favoriten für das Amt des Verteidigungsministers. Die Demokraten griffen deswegen in ihrer Not zu einem rechtlichen Kniff und senkten die Schwelle für eine Bestätigung durch den Senat auf eine einfache Mehrheit von 50 Stimmen (plus die Stimme des Vizepräsidenten). Dies sollte allerdings nur für Bundesgerichte und -behörden gelten, nicht aber für die Kandidaten für den Obersten Gerichtshof. Der Minderheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, warnte damals schon: „Sie werden dies bereuen, und zwar viel früher, als Sie denken.” Er sollte Recht behalten, und die Regel wurde auch auf den Supreme Court ausgedehnt. Unter Präsident Trump drückten die Republikaner so als erstes ihren hochumstrittenen Kandidaten Neil Gorsuch mit 54 statt der zuvor erforderlichen 60 Stimmen durch.

Der Damm war gebrochen. Trump ernannte danach mit Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett zwei weitere, extrem konservative Richter. Kavanaugh wurde mit 50 zu 48 Stimmen gewählt, Barrett mit 52 zu 48 Stimmen. Ihre Vorgängerin, die liberale Ikone Ruth Bader Ginsberg, hatte dagegen eine überwältigende Mehrheit von 93 zu drei Stimmen erhalten. Ein derartiger überparteilicher Konsens ist heute undenkbar. 

Bürgerrechte geschleift

Der US-Supreme Court im Jahr 2018, unter dem Vorsitz des Obersten Richters John G. Roberts, Jr. (vorne, Mitte). Rechts neben ihm die liberale Ikone Ruth Bader Ginsberg, die mit sagenhaften 93 zu drei Stimmen in das Amt gewählt worden war. Foto: Fred Schilling, Supreme Court Curator's Office
Der US-Supreme Court im Jahr 2018, unter dem Vorsitz des Obersten Richters John G. Roberts, Jr. (vorne, Mitte). Rechts neben ihm die liberale Ikone Ruth Bader Ginsberg, die mit sagenhaften 93 zu drei Stimmen in das Amt gewählt worden war. Foto: Fred Schilling, Supreme Court Curator’s Office

Von den neun höchsten Richtern und Richterinnen am Supreme Court sind nun sechs konservativ. Die Bahn war damit frei für die Umsetzung der konservativen Agenda der Republikaner. Und die Urteile seither haben gezeigt, wie bedeutend diese Besetzungen waren. Das seit 1973 bestehende landesweite Recht auf Abtreibung wurde abgeschafft, ein relativ strenges Waffenrecht im Bundesstaat New York aufgehoben, die Befugnisse der Umweltbehörde EPA (Environmental Protection Agency) beschnitten. Zuletzt, Ende Juni 2023, hoben die Obersten Richter die seit 1978 geltenden „Affirmative Action”-Regeln auf, die benachteiligten Minderheiten den Zugang zu Universitäten erleichterten. Bürgerrechtliche Errungenschaften, um die lange gekämpft worden war, wurden regelrecht geschleift.

Zwei, die ein ähnliches Verständnis von der Rolle oberster Gerichte haben: Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan, hier am 28. Juni 2019 beim G20-Gipfel im japanischen Osaka. Foto: White House Photo by Shealah Craighead
Zwei, die ein ähnliches Verständnis von der Rolle oberster Gerichte haben: Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan, hier am 28. Juni 2019 beim G20-Gipfel im japanischen Osaka. Foto: White House Photo by Shealah Craighead

Das Vorbild aus den USA hat Schule gemacht. In der Türkei bestimmt seit der Verfassungsreform von 2017 im Grunde nur noch Präsident Recep Tayyip Erdoğan, wer im Obersten Gericht sitzt. Zunächst wurden nach dem Putschversuch von 2016 die Richterbänke rigoros von vermeintlichen Anhängern des Predigers Fethullah Gülen gesäubert. Viele wurden verhaftet und vor Gericht gestellt. In der neuen Verfassung wurden auch die Regeln für die Ernennung von Richtern massiv verändert. Von den 13 Mitgliedern Richterrats, der die Richter formal bestimmt, werden vier direkt vom Präsidenten ernannt und sieben vom Parlament, das von Erdoğans AK-Partei dominiert wird; die anderen zwei Richter werden vom Justizminister und seinem Vize ernannt, die ebenfalls vom Präsidenten ernannt werden. Letztlich werden also sämtliche Mitglieder des Richterrats direkt oder indirekt von Erdoğan ausgewählt. Als Kontrollinstanz für die Regierung fällt das Oberste Gericht damit aus. Die Gewaltenteilung existiert so nicht mehr.

Gesetze verbogen

Ein schwieriger Partner für die EU: der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán (hier am 7. März 2014 bei einer Sitzung der Europäischen Volkspartei EVP). Foto: European People's Party
Ein schwieriger Partner für die EU: der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán (hier am 7. März 2014 bei einer Sitzung der Europäischen Volkspartei EVP). Foto: European People’s Party

Auch in Ungarn nahm Ministerpräsident Viktor Orbán direkten Einfluss auf das höchste Gericht. Mit den Stim­men der re­gie­ren­den rechts­na­tio­na­len Fi­desz-Par­tei ernannte das Parlament den Orbán nahestehenden Ver­fas­sungs­rich­ter An­dras Zsolt Varga zum Prä­si­den­ten des Obers­ten Ge­richts­hofs. Varga gilt als treuer Gefolgsmann des Oberstaatsanwalts Peter Polt, dem Kritiker vorwerfen, die Strafverfolgung von Korruptionsfällen im Umfeld des Regierungschefs zu blockieren. Der Landesrichterrat übte heftige Kritik an Vargas Beförderung, da dieser keine Erfahrung als Richter vorweisen könne, sondern stattdessen neun Jahre lang als stellvertretender Oberster Staatsanwalt gearbeitet hatte. Doch just jenes Gesetz, das für Bewerber:innen um dieses Amt eine richterliche Laufbahn vorschrieb, hatte Orbáns Partei im Parlament zuvor geändert.

Auch in Polen versuchte die regierende konservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jarosław Kaczyński, die Justiz auf Linie zu bringen. Der Hebel war jedoch ein anderer. Hier wurde im Juli 2017 das Ruhestandsalter für Richter:innen und Staatsanwält:innen von 67 Jahren herabgesetzt, auf 65 für Männer und 60 Jahre für Frauen. Mehr als 20 missliebige Jurist:innen konnten so in den Ruhestand geschickt und durch jüngere, konservative Kräfte ersetzt werden. Zudem sollte eine neue Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof eingerichtet werden, die jeden Richter oder Richterin bestrafen und entlassen können sollte. Ebenso wie Ungarn wurde auch Polen für die Angriffe auf die Justiz vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) verurteilt und musste teilweise einlenken. Ausgestanden sind die Konflikte in beiden Staaten jedoch bis heute nicht.

Verurteilt und im Kabinett

Israels Premier Netanjahu hatte jedenfalls reichlich Anschauungsmaterial für seinen Angriff auf die Justiz seines Landes. Über den ersten Teil der vom israelischen Parlament, der Knesset, verabschiedeten angeblichen Justizreform sagte der israelisch-deutsche Historiker Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, dies sei „wie ein Staatsstreich von oben“. Netanjahus Mehrheit im Parlament hatte die sogenannte Angemessenheitsklausel aus dem Gesetz gestrichen. Diese Regel erlaubt es dem Obersten Gericht bisher, Regierungsbeschlüsse zu stoppen, wenn es diese unangemessen findet. Kritiker warnen, sollte dieses Gesetz tatsächlich in Kraft treten, wäre dies eine Art Freifahrtschein für Korruption. Kaum jemand hat mehr Interesse an dieser Regelung als ausgerechnet Premier Netanjahu höchstselbst. Er muss sich schon seit drei Jahren mit Gerichtsverfahren wegen drei schwerwiegenden Korruptionsfällen herumschlagen. Zuvor hatte die Regierung bereits ein Gesetz durchgesetzt, um den Weg dafür freizumachen, dass rechtskräftig verurteilte Personen Ministerämter übernehmen dürfen. Itamar Ben-Gvir, der Vorsitzende der weit rechts stehenden Partei Otzma Yehudit („Jüdische Stärke“), hätte sonst nicht am Kabinettstisch Platz nehmen dürfen – ausgerechnet als Polizeiminister. Der heute 47-Jährige, der bei öffentlichen Auftritten gerne mit seiner Pistole herumfuchtelt, wurde 2007 wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. 

Der Knesset-Abgeordnete und heutige Polizeiminister Itamar Ben-Gvir und der rechtsradikale politische Aktivist Bentzi Gopstein bei einem provokativen Besuch am 13. Februar 2022 im Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Bei einem Besuch ein paar Monate später züchte Ben-Gvir gar eine Pistole. Foto: Shay Kendal
Der Knesset-Abgeordnete und heutige Polizeiminister Itamar Ben-Gvir und der rechtsradikale politische Aktivist Bentzi Gopstein bei einem provokativen Besuch am 13. Februar 2022 im Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Bei einem Besuch ein paar Monate später zückte Ben-Gvir gar eine Pistole. Foto: Shay Kendal

In der Regierung Netanjahu geben erkennbar religiöse und fundamentalistische Kräfte wie Ben-Gvir und der nicht minder radikale Bezalel Joel Smotrich, der Vorsitzende der rechts-religiösen Partei „Der Religiöse Zionismus“, den Ton an. Vor allem Ben-Gvir hat wiederholt gedroht, er werde die Regierung verlassen, wenn die beschlossene Agenda nicht umgesetzt werde. Angesichts der Massenproteste, die seit Monaten nicht abreißen, wurden die übrigen Teile der Justizreform vorerst aufgeschoben, doch keineswegs aufgegeben. Ursprünglich war auch ein Gesetz Teil des Pakets, wonach die Knesset mit einfacher Mehrheit Urteile der Obersten Richter überstimmen könnte. Israels früherer Botschafter in Deutschland, Schimon Stein, warnte bereits: „Wenn Netanjahu und seine Koalition ihre Pläne umsetzen, wird Israel nicht mehr sein, was Israel heute ist: eine lebendige Demokratie.“

Abhängig von Extremisten

Das sechste Kabinett von Benjamin Netanjahu. Den Ton geben hier ultraorthodoxe und extremistische Minister an. Foto: Avi Ohayon
Das sechste Kabinett von Benjamin Netanjahu. Den Ton geben hier ultraorthodoxe und extremistische Minister an. Foto: Avi Ohayon

Israel ist in Aufruhr. Staatspräsident Isaac Herzog will sogar einen Bürgerkrieg nicht mehr ausschließen. „Diejenigen, die glauben, ein Bürgerkrieg in Israel sei undenkbar, liegen falsch“, sagte er in die Fernsehkameras. Laut einer jüngsten Umfrage des TV-Senders „Channel 12“ befürchten das inzwischen 67 Prozent der Befragten. Rund eine Million Bürger hat inzwischen mindestens fünfmal an Protestveranstaltungen teilgenommen. Eine ungeheuere Zahl bei weniger als zehn Millionen Einwohnern. Ärzt:innen haben sich dem Protest angeschlossen, die Gewerkschaften erwägen einen Generalstreik. Die Wirtschaftsverbände mahnen. Mehr als 10.000 Reservisten drohten, ihren Militärdienst zu verweigern. Selbst mehrere frühere Chefs der Armee sowie der Geheimdienste Mossad und Schin Bet stellten sich in einem gemeinsamen Schreiben hinter den Protest der Reservisten. Doch nichts weist bisher darauf hin, dass Netanjahu zurückweichen könnte. Er ist abhängig von Ultraorthodoxen und Rassisten. Es wäre das Ende seiner Koalition.

Dies weist auf ein anderes Phänomen hin: In zahlreichen Ländern ist es enorm schwierig geworden, nach Wahlen stabile Regierungen zu formen. Oft genug spalten sich die Lager in 50:50-Blöcke auf. Vielfach kommen überhaupt nur Mehrheiten zustande, wenn sich sehr heterogene Parteien auf ein Bündnis einlassen, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen. Dennoch wird oft genug versucht, trotz dieser winzigen Mehrheiten Entscheidungen durchzudrücken, die die Gesellschaft grundlegend verändern könnten und für die eigentlich viel größere Unterstützung nötig wäre.

Auch fünf Wahlen ändern nichts am Patt

In Israel fanden in nur drei Jahren fünfmal Parlamentswahlen statt. An der Pattsituation hat sich nie etwas geändert. Mitte 2022 scheiterte nach nur einem turbulenten Jahr eine Acht-Parteien-Koalition unter dem Ministerpräsidenten Naftali Bennett, in der sowohl rechte Nationalisten der von Avigdor Lieberman gegründeten Partei Jisra’el Beitenu („Unser Haus Israel“) als auch das arabische Ra‘am-Bündnis („Vereinigte Arabische Liste“) vertreten waren. Das konnte nicht lange gutgehen. Als dann eine Abgeordnete aus Bennets rechter Jamina-Partei austrat, verlor die Regierung ihre ohnehin hauchdünne Parlamentsmehrheit von 61 der 120 Sitze – und die Koalition war am Ende.

Wie kommt man aus dieses Dilemma heraus? Ein Kernelement ist offenkundig die Stellung des Obersten Gerichts. Dieses Gericht wacht über die Verfassung und die Gesetze. Wenn dieses Gremium politisch instrumentalisiert werden kann, droht die Gesellschaft auseinanderzudriften. Deswegen ist ein hohes, überparteiliches Ansehen unabdingbar. Die Negativbeispiele aus den USA, der Türkei, Ungarn, Polen und zuletzt aus Israel belegen das überdeutlich.

Gute Regelung in Deutschland

Die Besetzung des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (hier bei einer mündlichen Verhandlung am 12 Juli 2012) macht selten Schlagzeilen. Die Richter und Richterinnen werden mit Zweidrittelmehrheiten berufen. Extreme Kandidaten hätten hier keine Chance. Foto: Mehr Demokratie e.V.
Die Besetzung des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (hier bei einer mündlichen Verhandlung am 12. Juli 2012) macht selten Schlagzeilen. Die Richter und Richterinnen werden mit Zweidrittelmehrheiten berufen. Extreme Kandidaten hätten hier keine Chance. Foto: Mehr Demokratie e.V.

In Deutschland dagegen ist die Wahl der Verfassungsrichter in aller Regel ziemlich unspektakulär und kaum je Anlass für hitzige Debatten. Das liegt an der Art, wie sie ausgewählt werden und  welchen Mehrheiten sie hinter sich haben müssen. Die 16 obersten Richter und Richterinnen werden jeweils zur Hälfte vom Bundesrat und vom Bundestag gewählt. Vorgeschlagen werden können nur Personen, die unzweifelhaft über höchste Qualifikationen verfügen. Um bestätigt zu werden, müssen sie zudem jeweils eine Zweidrittelmehrheit erreichen. Das verhindert zuverlässig, dass extreme Kandidaten vorgeschlagen werden. Sie hätten von vornherein keine Aussicht, die erforderliche Mehrheit hinter sich zu bringen. So, wie es auch in den USA einmal war.

Eine wichtige Vorkehrung gegen Angriffe extremer politischer Kräfte ist zudem die sogenannte Ewigkeitsklausel im Grundgesetz. Artikel 79 Abs. 3 GG bestimmt, dass Kernelemente des Grundgesetzes selbst durch Verfassungsänderungen nicht abgeändert werden dürfen. Dies betrifft die Grundrechte der Bürger (Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“), aber auch die rechtliche Grundordnung Deutschlands (Art. 20: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“) Die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes gaben damit die Antwort auf die Erfahrungen in der Nazizeit, als die Länder entmachtet und die Würde unzähliger Menschen mit Füßen getreten wurden. Eine vergleichbare Sicherung der Demokratie gibt es in keiner anderen Verfassung der Welt. Ob ein solcher Konsens heute noch möglich wäre, lässt sich nicht leicht beantworten.

Robuste Sicherungsmaßnahmen

Die Schweizer stimmen regelmäßig auch über kleiner Fragen ab. Dieses Foto zeigt einen vergrösserten Stimmzettel von 2004, bei dem es um einen jährlichen Zuschuss für die Zürcher Filmstiftung ging. Foto: Haemmerli
Die Schweizer stimmen regelmäßig auch über kleinere Fragen ab. Dieses Foto zeigt einen vergrößerten Stimmzettel von 2004, bei dem es um einen jährlichen Zuschuss für die Zürcher Filmstiftung ging. Foto: Haemmerli

Doch einige wenige Beispiele, die robuste Sicherungsmaßnahmen enthalten, gibt es durchaus. In der Schweiz bestimmen Bürgerinnen und Bürger in Volksabstimmungen direkt über wichtige Gesetzesvorlagen und Verfassungsänderungen ab. Für Verfassungsänderungen ist gar eine doppelte Mehrheit erforderlich: eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen und eine Mehrheit der Kantone.

Auch die amerikanische Verfassung, so stark herausgefordert sie zuletzt war, enthält noch einige wichtige Sicherungsmaßnahmen. Verfassungsänderungen müssen entweder von einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses oder von einer speziellen Verfassungskonvention in drei Viertel der Bundesstaaten ratifiziert werden. Solche Änderungen wären in dem derzeit so vergifteten Klima nicht zu erreichen.

Abschreckendes Beispiel Brexit

Größere Mehrheiten wären auch in anderen Fragen wünschenswert. Nicht im normalen Parlamentsalltag, etwa bei Haushaltsfragen oder der Veränderung von Steuersätzen. Sollte das Wahlvolk damit so überhaupt nicht einverstanden sein, kann das alles von neuen politischen Mehrheiten auch wieder korrigiert werden. Bei grundlegenden Fragen, die die gesamte politische Architektur von Gesellschaften berühren, ist es dagegen fraglich, ob es einen Land guttut, wenn sie mit 50,1-Prozent-Mehrheiten durchgedrückt werden können. Das ist derzeit in Israel zu besichtigen. Aber auch der Brexit ist ein gutes Beispiel. 

Ob Großbritannien der EU weiter angehören oder aus der Union ausscheiden sollte, das war eine fundamentale Entscheidung, die das Land förmlich entzwei riss. Das sogenannte Brexit-Referendum sollte ohnehin politisch nicht bindend sein, entfaltete aber eine Dynamik, die letztlich zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU führte. Es ist ein Paradebeispiel für politisches Versagen.

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Lügen sorgten für die Mehrheit

Es wäre für das Land gut gewesen, die politischen Lager hätten sich da auf eine sachlichere Debatte einlassen können, die am Ende vielleicht zu einem größeren Konsens hätte führen können. So aber wurden Lügen und Falschinformationen verbreitet, die das Klima nachhaltig vergifteten. Auch die Presse hat dazu beigetragen, allen voran die Zeitungen des reaktionären Medienmoguls Rupert Murdoch. Im Nachhinein freilich wurde rasch klar, dass die Versprechungen der Brexit-Befürworter durchweg hohl waren. Die Abermilliarden, die angeblich nach Brüssel flossen (die Zahlen waren schamlos übertrieben), wurden anschließend keineswegs in das marode britische Gesundheitswesen gepumpt. Das Land hat erhebliche wirtschaftliche Schäden erlitten – und rückgängig machen lassen wird sich der Austritt auf lange Zeit nicht mehr.

Diesen Eindruck haben heute viel mehr Briten als zum Zeitpunkt des Referendums: „Der Brexit war es nicht wert“, fand jedenfalls dieser Mann bei einer Protestveranstaltung vor dem Parlament am 8. September 2021. Foto: Mark Wordy
Diesen Eindruck haben heute viel mehr Briten als zum Zeitpunkt des Referendums: „Der Brexit war es nicht wert“, fand jedenfalls dieser Mann bei einer Protestveranstaltung vor dem Parlament am 8. September 2021. Foto: Mark Wordy

Nun sind die politischen Gräben nicht überall so tief wie in Großbritannien. Doch die Unversöhnlichkeit hat auch andernorts spürbar zugenommen. Selbst in den früher so vorbildlich gelassen-stabilen skandinavischen Staaten ist das politische Klima inzwischen teilweise vergiftet. In Schweden ist der konservative Regierungschef Ulf Kristersson mittlerweile auf die Unterstützung der rechtspopulistischen bis rassistischen Schwedendemokraten angewiesen. In Finnland sind die rechtspopulistischen Wahren Finnen (PS) inzwischen zweitstärkste Kraft und direkt Teil der regierenden Vierparteienkoalition.

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Muss die AfD erst regieren?

Doch die Frage, ob die politischen Lager sich darauf verständigen könnten, wieder mehr entlang der Sache zu diskutieren und um Lösungen zu ringen, ist theoretisch viel leichter zu beantworten als in der Praxis. Auch in Deutschland sind die politischen Blöcke zu sehr von wahltaktischen Überlegungen geprägt, als dass dies dem Land guttut. Es ist unübersehbar, dass dies nur den Rechtspopulisten der AfD nützt. Müssen wir wirklich erst erleben, dass diese vermeintliche Alternative an einer Landesregierung beteiligt ist, bevor sich die Parteien der Mitte auf ein anderes Miteinander verständigen können?

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